Sehr häufig gibt es das Phänomen, dass eine schicksalhafte Erkrankung im familiären Umfeld schwere Konflikte zwischen den Angehörigen auslöst. Ein klärender Austausch ohne Unterstützung gelingt meist nicht. Entsprechende Unterhaltungen zerstören oft mehr, als dass sie eine schlichtende Wirkung hätten.
Ein Fallbeispiel:
Die seelische Erkrankung des jüngeren Sohnes bzw. Bruders hat den jungen Mann schon seit Jahren „fest im Griff“, er leidet unter erheblichen Stimmungsschwankungen, benötigt (vor allem emotional) regelmäßige Unterstützung und ist langfristig nicht arbeitsfähig. Die Eltern und der ältere Sohn bzw. Bruder hatten immer ein entspanntes und offenes Verhältnis zueinander, geraten nun jedoch zunehmend in einen Konflikt: die Kommunikation ist oberflächlich, gegenseitige Vorwürfe stehen im Raum. Enttäuschungen und Missverständnisse festigen die Entfremdung. Persönliche Kontakte werden als „Pflicht, schwer, eskaliert“ empfunden.
Die Mutter beschreibt in der Mediationssitzung ihre völlige Überlastung. Neben ihrem Beruf (stundenweise) beschäftigt sie sich fast ausschließlich mit der Situation des kranken Sohnes. Sie ist viel vor Ort, organisiert, unterstützt finanziell und versucht alles, seine Situation zu verbessern. In ihrem Heimatort meidet sie den Kontakt zu alten Bekannten: „was soll ich denen erzählen?“ Sie erlebt im Familienkreis viel Enttäuschung und Verletzung: Sie erwartet Unterstützung speziell auch vom älteren Sohn und versucht zu verstehen, warum sie diese nicht erfährt.
Der Vater sorgt sich vor allem um die Zukunft „wie soll das nur weitergehen?“ Mit dem älteren Sohn ist das Verhältnis mittlerweile belastet. Man sieht sich kaum noch und spricht eigentlich nur noch über „oberflächliche Themen“. Er weiß kaum noch etwas vom Leben seines älteren Sohnes. Aber wenn der nicht bereit ist, das Schicksal der Familie mitzutragen, muss man halt auch das hinnehmen.
Der ältere Sohn fühlt sich sehr unter Druck gesetzt und formuliert die Empfindung von Zurückweisung durch die Eltern. Er genügt nicht, er darf sich nicht (z.B. über berufliche Belastung) beklagen oder über Zukunftsideen sprechen. Dann wird sofort die schwierige Situation des Bruders angesprochen. Er macht sich Sorgen um die Eltern, speziell die Mutter, beschreibt diverse „Szenen“ sogar in der Öffentlichkeit, wo seine Zuneigung und Sorge nicht erkannt oder wahrgenommen wurde. Er hat sich sehr um seinen Bruder bemüht, erlebt aber seit geraumer Zeit, dass Telefonate unterbrochen werden, Einladungen unentschuldigt nicht wahrgenommen werden und er von seinem Bruder in dessen Wohnung „herauskomplimentiert“ wird. Sein Bruder will wohl nichts mit ihm zu tun haben und gegenüber den Eltern hat er die Empfindung von Scham, wenn es ihm in seinem Leben gut geht. Seine Partnerin hat ihn gebeten, zum eigenen Schutz, den Kontakt zur Familie zu reduzieren, gut geht es ihm damit aber nicht.
In den persönlichen Darstellungen werden ganz unterschiedliche Geschichten erzählt. Mit nachlassendem Kontakt unterbleibt der Austausch über die entfremdenden Punkte. Dafür wachsen Vorannahmen und Erwartungen. Die tragende negative Empfindung ist die Empörung: Vermeintlich werden Familienwerte verletzt. Ein Austausch mit dem erkrankten Familienmitglied findet nicht statt.
Schon die Hinzunahme eines Unbetroffenen zum Gespräch verändert die Muster in der Kommunikation der Gesprächspartner: Sie „dürfen“ jeweils aussprechen und persönliche Empfindungen formulieren. Mit Unterstützung des Mediators können diese Empfindungen in (passende) Worte gefasst werden (erstmals) und damit auch vermittelt werden. Emotionen waren in der Familie nie Thema, das nebeneinander Bestehen verschiedener Empfindungen und die Beeinflussung des Denkens durch die Empfindungen (Affektlogik) war den Familienmitgliedern nicht klar. Die Empfindungen sind sehr stark: Scham (Mutter), Angst (Vater), Gefühl nicht zu genügen und der unberechtigten Freude am Leben (Bruder).
Der Familie war nicht bewusst, wie sehr diese Empfindungen Verhalten, Kommunikation und gegenseitiges Verständnis beeinflussen. Durch gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung dieser Gefühle entsteht verhältnismäßig schnell ein Klima des Ausgleichs. Gesprächspartner können identifizieren, was für den Anderen unerträglich ist und an welchen Stellen jeder dem Anderen helfen kann. Es werden Vereinbarungen getroffen, die ausschließlich die Gesprächspartner betreffen: In gegenseitiger Achtsamkeit und mit Selbst- und Fremdverantwortung wird Unterstützung möglich und wirksam.