Hinweis:
Dieser Blog erscheint in zwei Fortsetzungen:
1. Teil in KW 2
2. Teil in KW 4
Ein älterer Bewohner eines Pflegeheims, übergewichtig seit langem (> 120 Kilogramm), wird routinemäßig gewogen. Die Pflegekraft stellt fest, dass er in den letzten Wochen 2 Kilogramm an Gewicht verloren hat. Im Regelwerk des Hauses bedeutet dies, die Einbeziehung der Pflegedienstleitung. Diese veranlasst die Gabe von hyperkalorischer Zusatzkost (der Patient wird nicht gefragt, nicht informiert, nicht einbezogen!). Die Anordnung wird dem Hausarzt mitgeteilt, einbezogen in die Entscheidung wird dieser nicht. Aufgrund verschiedener Bedingungen hat der Bewohner einen Betreuer, auch dieser wurde (auf Nachfragen des Arztes) in die Entscheidung nicht einbezogen. Der Patient hat in der Vergangenheit mehrfach gegenüber dem Arzt und dem Betreuer geäußert, dass er keine lebensverlängernden Maßnahmen haben wolle, dass er eigentlich lebenssatt sei… Wie kann es dann zu einer solchen Anordnung kommen? Was ist der Beweggrund der Pflegedienstleitung?
Die Entscheidungskriterien verschiedener Berufsgruppen im Kontext von Pflege und Versorgung folgen anderen Kriterien. Der ständige Umgang mit Menschen im Lebensabend, mit dementiellen Einschränkungen und schlechten Stimmungen mag selbstständige Entscheidungen der Pflege begründen. Aber auch unbequeme Nachfragen von MDK oder Heimaufsicht können „automatische“ Reaktionen auslösen. Vielleicht spielen auch Zimmerbelegung und Wirtschaftlichkeit eine Rolle?
Welche Kriterien beeinflussen die Entscheidungen der Betroffenen? Was empfinden diese Menschen eigentlich als lebenswert? Folgende Punkte werden immer wieder genannt: Autonomie, häusliche Umgebung und gewohnte Tagesabläufe. Den meisten Befragten war klar, dass die Alltagstauglichkeit eingeschränkt ist, dass Kochen und Räumen nicht mehr so gut klappen. Alleinstehenden war klar, dass sie im Falle eines Sturzes oder einer Ohnmacht keine schnelle Hilfe erwarten können. Auch eine unter Gesundheitsaspekten vernünftig eingerichtete Wohnung wurde nicht angestrebt: Weder wurden Teppiche weggeräumt zur Sturzprophylaxe noch eine Umplanung der Zimmer unter praktischen Gesichtspunkten durchgeführt. Wesentliche Werte waren: Gewohnte Lebensbedingungen ohne Veränderungen, Unabhängigkeit von Anderen, Festhalten an alten Mustern und Gewohnheiten. Dagegen gab es kaum Interesse an Sicherheit oder Unterstützung. (Quelle: Atul Gawande, Sterblich sein, Frankfurt: S. Fischer, 2015)
Da ist die Sicht von Angehörigen und Profis ganz anders: Sicherheitskriterien und die Möglichkeiten einer fachkundigen Pflege stehen in deren Bedeutung an erster Stelle. Und im Austausch der Argumente heißt viel zu häufig: „das kann man doch nicht…“
Wieso „kann man…“ eigentlich nicht. Die Willensäußerungen vieler Betroffenen sind reflektiert. Meist sind sie sich der Konsequenzen bewusst. Ihr Fokus ist gerichtet auf Lebensqualität, und zwar Lebensqualität nach persönlicher Auffassung. Und diese Auffassung sollte geachtet werden. Gerade wenn es keinen Hinweis für eine Störung der Kritikfähigkeit gibt.
Anders ist es bei einer ebenfalls großen Gruppe älterer Menschen: diese wollen keine Entscheidungen treffen und versuchen, Angehörige und Offizielle so einzubeziehen, dass sie selbst keine Stellungnahme leisten müssen. Persönlich empfinde ich das als eine Zumutung für die Personen, die mit dem Brecheisen in die Retterrolle gezwungen werden. Aber dann habe ich auch kein Mitleid, wenn die eigentlich Betroffenen nicht das bekommen, was sie sich erhoffen. Da gibt es aber auch den Verdacht, dass manch ein Betroffener die Entscheidungen meidet, weil fatalistisch die Veränderungen hingenommen werden ohne sich zu „wehren“ oder so der Blick von den Konsequenzen abgelenkt werden kann.
Jedenfalls ist die Verordnung von kalorienzuführender Zusatzkost bei einem alten Menschen, der an Gewicht verliert, darauf gerichtet, eine potentiell lebensbeendende Entwicklung aufzuhalten. Die wohlbekannten Wünsche werden nicht berücksichtigt, die Gabe der Zusatzkost mit ihm nicht erörtert.
Das dargestellte Beispiel ist kein Einzelfall! Die Bedürfnisse der Bewohner stehen oftmals nicht im Vordergrund der Aufmerksamkeit… Aber sollte sich das nicht ändern?!